Im März schrieb ich einen Essay über die Beziehung zur Welt, die wir als Menschen brauchen. Nur kurz darauf gerieten wir alle in den Bann des Covid-19 Virus und sind nun mitten drin im „Corona-Sog“. Bei allem Verständnis für Maßnahmen, die uns vor Krankheit und Tod schützen sollen, stimmt mich doch vieles von dem, was ich derzeit beobachte sehr nachdenklich.
Meine Nachdenklichkeit beginnt beim Einkaufen. Da ich hier am Land in unserem „sicheren Refugium“ nur sehr selten genötigt bin, einkaufen zu gehen, war ich vorige Woche nach gut einem Monat zum ersten Mal wieder „draußen“. Vielleicht hat mich deshalb der Anblick der vielen Masken tragenden Menschen in den Straßen und Geschäften so irritiert. Geradezu surreal erschien mir das Bild der vermummten Menschen, die allesamt dazu angehalten sind, sich nicht zu nahe zu kommen.
Ich möchte hier nicht näher darauf eingehen, inwiefern diese Maßnahmen sinnvoll und wirksam sind. Ganz konnte ich mich den Zahlenspielereien aber doch nicht entziehen: Am 29. April gab es laut Bundesministerium in Österreich insgesamt 580 Todesfälle mit Corona („Jede verstorbene Person, die zuvor COVID-positiv getestet wurde, wird in der Statistik als „COVID-Tote/r“ geführt, unabhängig davon, ob sie direkt an den Folgen der Viruserkrankung selbst oder „mit dem Virus“ (an einer potentiell anderen Todesursache) verstorben ist.“). Insgesamt 15.352 bestätigte Fälle, von denen am 29.4. bereits 12.779 Menschen wieder genesen waren. (Quelle: Sozialministerium)
Es liegt mir wirklich fern, das Leid der Hinterbliebenen herunterzuspielen oder die Erkrankung zu verharmlosen. Dennoch erscheint es mir angebracht, einige Vergleichszahlen anzusehen. So sterben an der „echten Grippe“ jährlich etwa 1000 Menschen (Quelle: Sozialministerium) und 2018 verstarben 3078 Menschen an Diabetes mellitus (Quelle: Statistik Austria). Über die traurige Tatsache, dass weiterhin alle 10 Sekunden ein Kind unter 5 Jahren an den Folgen von Hunger verstirbt – das sind immerhin 264 Kinder pro Tag – sollten wir trotz der Sorge um unsere Gesundheit, auch nicht einfach hinwegsehen. (Quelle: Welthungerhilfe)
Warum, so frage ich mich, nehmen wir fast kommentarlos weltweit beinahe 100.000 verhungerter Kinder jährlich zur Kenntnis und registrieren mehr als 3000 in Österreich an Diabetes Verstorbene sowie 410 im Verkehr tödlich Verunglückte mit einem Achselzucken und sind gleichzeitig derart verängstigt vor Corona? Wir steigen weiterhin unbesorgt ins Auto, rühmen uns vielleicht sogar einer „sportlichen“ Fahrweise. Nur wenige ändern ihre Ess-, Trink- und Kaufgewohnheiten, obwohl wir wissen, wie sehr diese unsere Gesundheit und den Hunger in der Welt beeinflussen. Covid-19 hingegen lässt jeden Widerspruch und zunehmend unseren gesunden Menschenverstand verstummen. Wir halten uns brav an mitunter absurd anmutende Maßnahmen, obwohl uns manche davon vielleicht nur wenig sinnvoll erscheinen.
Was mir derzeit – viel mehr als eine Ansteckung mit dem Covid-19 Virus – Sorgen bereitet ist, dass wir nach dem radikalen „Lockdown“ die Gelegenheit verpassen, etwas an unseren eingefahrenen Mustern zu ändern und ganz gleich weitermachen könnten wie vorher.
Dass wir menschenfeindliche Wirtschaftssysteme und Lebensweisen wieder „hochfahren“ wie zuvor. Dass große Konzerne die Nutznießer der „Corona-Milliarden“ sein werden und die alleinerziehende Mutter noch weniger Geld als vorher hat, weil sie von der Politik im Regen stehen gelassen wird. Dass selbsternannte „Sittenwächter“ jeden, der sich nicht genau an alle Schutzmaßnahmen hält, schief anschauen, kritisieren oder sogar anzeigen. Dass wir auch Maßnahmen, die uns vielleicht vor einer Ansteckung schützen, uns aber in anderer Form schaden könnten, weiterhin widerspruchslos hinnehmen. Dass wir uns daran gewöhnen, Abstand zu unseren Mitmenschen zu halten, in der Öffentlichkeit Masken zu tragen und ständig unsere Hände zu desinfizieren. Dass die sozialen Folgen der jetzigen Maßnahmen noch sehr lange nachwirken werden.
Ich bin der Ansicht, dass die handelnden Entscheidungsträger die Gefahr ignorieren oder zumindest unterschätzen, die im Sozialen auf uns und insbesondere auf Kinder und Jugendliche lauert. Die allen Maßnahmen zu Grunde liegende Botschaft lautet doch: „Jeder meiner Mitmenschen ist potentieller Krankheitsüberträger und damit eine Gefahr für meine Gesundheit und mein Leben. Nur, wenn ich mich von allen Menschen, auch von meinen Freunden fernhalte, bin ich in Sicherheit.“
Steuern wir auf eine Gesellschaft zu, die lachen, singen, Köpfe zusammenstecken und sich umarmen als Gefahr abstempelt? Bei der Vorstellung dessen, wie sich Kinder laut dem Hygienehandbuch des Bundesministeriums in der Schule verhalten sollten, laufen mir kalte Schauer über den Rücken: Nur mehr einzeln an den Tischen sitzen, sich nicht berühren dürfen, nicht miteinander herumtollen, nicht laufen, nicht singen, in der Pause Masken tragen und Abstand halten, alle 30 Minuten die Hände waschen, usw.
Wie lange wird es dauern, dass wir uns auch emotional nicht mehr berühren können, da wir uns körperlich nicht mehr berühren dürfen? Werden Sozialphobie und zwanghaftes Hygieneverhalten die Norm? Werden Kleinkinder in Zukunft zumindest im öffentlichen Raum nur mehr in gefühlsleere Masken, statt in lächelnde Gesichter schauen? Müssen alte Menschen vereinsamen, weil sie sich sonst anstecken könnten? Wie lange verzichten wir auf Feste, gemeinsames Lachen und Umarmungen?
Viele Fragen, die mich beschäftigen, vieles, was mir Sorgen bereitet angesichts der derzeitigen Entwicklungen. Ich bin dennoch zuversichtlich, denn ich weiß, dass viele Menschen ähnlich denken wie ich. Viele fragen sich, ob die Maßnahmen noch verhältnismäßig sind und wie weit wir uns als mündige Menschen bevormunden lassen wollen. Charles Eisenstein fasst in seinem lesenswerten Aufsatz „Die Krönung“ sehr treffend wichtige Gesichtspunkte der aktuellen Krise zusammen.
Doch jede Krise ist zugleich ein Chance. Wir haben erlebt, dass unsere Gesundheit wichtiger sein kann als alle wirtschaftlichen Bedenken. Wir haben erlebt, wie schnell sich die Natur erholen kann, wenn wir sie ein wenig in Ruhe lassen. Wir haben erlebt, dass Menschen einander helfen und unterstützen. Wir haben viel gemeinsame Zeit mit unseren Kindern und Lebenspartnern verbracht und sind wochenlang ohne Shoppingtouren ausgekommen. Es liegt an uns, die positiven Erlebnisse der letzten Wochen weiterzutragen und in der Zeit nach Corona zu kultivieren. Wir können unsere Reisegewohnheiten überdenken, uns weiterhin gegenseitig unterstützen und viel Zeit miteinander verbringen. Gemeinwohl-Ökonomie, Bedingungsloses Grundeinkommen, Re-Use-Projekte, Transition Towns und vieles mehr könnten jetzt, nach dem Stopp des bisherigen Wirtschaftskarussells, ein neues Miteinander zum Wohle Aller in der Gesellschaft etablieren.
Es liegt an uns! Nutzen wir die Chance!