„Ein kluger Mensch wird die Gerechtigkeit nicht der Gnade des Zufalls überlassen„,
Mit deutlichen Worten verurteilt er die politisch interessierten Bürger, die über verbale Bekundungen nicht hinauskommen: „Sie zögern, sie bedauern, und manchmal unterschreiben sie auch Bittschriften, aber sie tun nichts ernsthaft und wirkungsvoll. Sie warten – wohlsituiert -, dass andere den Missstand abstellen, damit sie nicht mehr daran Anstoß nehmen müssen. Höchstens geben sie ihre Stimme zur Wahl, das kostet nicht viel, und der Gerechtigkeit geben sie ein schwaches Kopfnicken und die besten Wünsche mit auf den Weg, während sie an ihnen vorübergeht“ (S. 23).
Als zentrale, handlungsleitende Instanz nennt Thoreau das individuelle Gewissen. Ihm sollte sich jeder Mensch in erster Linie verantwortlich fühlen und nicht irgendwelchen Gesetzen, die von einer Regierung – und damit in demokratischen Staaten von einer Mehrheit – beschlossen wurden. Die Legitimation der Mehrheit besteht ihm zufolge nicht darin, dass sie gerechter wäre, sondern „ganz einfach [darin], dass sie physisch am stärksten ist“ (S. 13). und weiter fragt er: „Könnte es nicht eine Regierung geben, in der nicht die Mehrheit über falsch oder richtig befindet, sondern das Gewissen? (…) Muss der Bürger auch nur einen Augenblick, auch nur ein wenig, sein Gewissen dem Gesetzgeber überlassen? Wozu hat dann jeder Mensch ein Gewissen? Ich finde, wir sollten erst Menschen sein und danach Untertanen. Man sollte nicht den Respekt vor dem Gesetz pflegen, sondern vor der Gerechtigkeit“ (S. 13).
Wir kennen genügend Beispiele aus der Geschichte, wo Menschen sich gegen das gerade gültige Gesetz aufgelehnt haben und dafür von den jeweiligen Staaten verfolgt, inhaftiert, oft sogar ermordet wurden. Hätte Gandhi sich an das Gesetz gehalten, wäre Indien vielleicht heute noch eine britische Kolonie und in Südafrika gäbe es ohne Nelson Mandela vielleicht noch immer die
Thoreau fordert ganz klar: „Wenn aber das Gesetz so beschaffen ist, dass es dich zwingt, einem anderen Unrecht anzutun, dann, sage ich, brich das Gesetz“ (S. 33).
Das individuelle Gewissen kann nie ein Mehrheitsbeschluss sein. Im Gegenteil, es fordert den Menschen permanent auf, sich zu einer jeweiligen Situation eigenständig, seinem Gewissen gehorchend zu positioniern und danach zu handeln. Das ist sicher der unbequemere Weg, denn Staaten reagieren unfreundlich, wenn ihre Allmacht hinterfragt wird. Sobald alle Menschen sich in ihrem Handeln nicht mehr auf eine übergeordnete Instanz berufen, die ihnen letztendlich die Verantwortung für ihr Handeln abnimmt, sondern ihrem Gewissen folgen, ist eine entscheidende Weiterentwicklung der Gesellschaft möglich, denn „gewissenhafte Menschen (…) verbinden sich zu einer Vereinigung mit Gewissen“ (S. 14).
Am Schluss seines Essays wagt Thoreau noch einen Gedanken: „Ist die Demokratie, wie wir sie kennen, wirklich die letzte mögliche Verbesserung im Regieren? Ist es nicht möglich, noch einen Schritt weiter zu gehen bei der Anerkennung und Kodifizierung der Menschenrechte? Nie wird es einen wirklich freien und aufgeklärten Staat geben, solange der Staat sich nicht bequemt, das Individuum als größere und unabhängigere Macht anzuerkennen, von welcher sich all seine Macht und Autorität ableiten, und solange er den Einzelmenschen nicht entsprechend behandelt. Ich mache mir das Vergnügen, mir einen Staat wenigstens vorzustellen, der es sich leisten kann, zu allen Menschen gerecht zu sein, und der das Individuum achtungsvoll als Nachbarn behandelt; einen Staat, der es nicht für unvereinbar mit seiner Stellung hielte, wenn einige ihm fernblieben, sich nicht mit ihm einließen und nicht von ihm einbezogen würden, solange sie nur alle nachbarlichen, mitmenschlichen Pflichten erfüllten“ (S. 70).
Es liegt an uns, unser Handeln nach unserem Gewissen auszurichten! Worauf warten wir noch?
Thoreau, H. D. (2004): Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. Civil Disobedience. Zweisprachige Ausgabe. Zürich: Diogenes Verlag.
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