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Gegen die Verschmutzung des ICH

1971 sollte Jacques Lusseyran den oben genannten Vortrag halten. Er verunglückte jedoch 3 Wochen vorher tödlich. Die Niederschrift des Vortrags berührt durch die zeitlose Gültigkeit.

Der französiche Philosoph und Schriftsteller ist vor allem durch seine Autobiografie „Das wiedergefundene Licht“ bekannt. Seine Lebensgeschichte berührt und fesselt zugleich, denn obwohl er einige Schicksalsschläge ertragen musste, bejaht er voll und ganz das Leben. Jacques Lusseyran, geboren 1924 in Paris, erblindete im Alter von 7 Jahren durch einen Unfall. Mit der Hilfe seiner Eltern gelang es ihm – damals völlig unüblich – weiterhin die Schule zu besuchen. Er schildert, dass gerade seine Blindheit es ihm ermöglichte, sein inneres Licht zu erkennen: „Ich sah das Licht. Ich sah es noch, obwohl ich blind war (S. 26)“.

Als die Nazis Frankreich besetzen, schließt er sich dem Widerstand an, wird jedoch an die Gestapo verraten und 1944 gemeinsam mit 2000 Leidensgefährten ins KZ Buchenwald deportiert. Als einer von wenigen überlebte er diese schreckliche Zeit. Er betont, dass nur seine Fähigkeit, sein inneres Licht zu erleben, ihm das Überleben ermöglichte: „Jedesmal, wenn der Anblick und die Prüfungen des Lagers unerträglich wurden, verschloss ich mich einige Minuten von der äußeren Welt. Ich erlangte denjenigen Zufluchtsort, an dem keine SS mich erreichen konnte. Ich richtete meinen Blick auf dieses innere Licht, das ich mit 8 Jahren wahrgenommen hatte. Ich ließ es durch mich hindurchschwingen. Und ich stellte sehr schnell fest, dass dieses Licht Leben, dass es Liebe war“ (S. 27).

Im Vortrag behandelt Lusseyran das Innenleben des Menschen, das er als von vielen Seiten bedroht wahrnimmt. Obwohl bereits vor 50 Jahren verfasst, kommt er zu einem alarmierenden Schluss: „Mein Innenraum gehört mir gar nicht: dies ist die widerwärtige Entdeckung, die ich machen muss. Gewiss finde ich in ihm noch einige ‚persönliche Effekten‘, aber so, wie eine Stecknadel im Heuhaufen. Aber auch den anderen gehört mein Innenraum nicht, denn ich habe ja nicht den Vorsatz gehabt, ihnen diesen zu geben. Er gehört niemandem. Er ist vollgestopft mit irgendwelchen Sachen. Es gibt schon Autofriedhöfe. Ich beklage mich darüber, weil sie die Landschaft verschandeln. Und nun werde ich meinerseits zu einem Friedhof, einem Friedhof von Worten, von Schreien, von Musik, von Gesten, die niemnad ganz im Ernst macht, von Informationen, Gebrauchsanweisungen, hundertmal wiederholten Wortfolgen, die aber eigentlich gar niemand will“ (S. 11).

Wenn er dies bereits 1971 feststellte, was würde Lusseyran dann zu unserer heutigen, sicher wesentlich lauteren Zeit sagen? Wenn er davon spricht, dass bald jeder „Zoll unseres inneren Raums niedergetrampelt“ wird und dass das Ich keinen Raum mehr hat, weil „die Außenwelt hat überall ihre Abfälle hingestreut“, so stellt sich mir die Frage, wie viel Platz unser Ich heute noch hat, wenn wir es nicht sorgsam hüten.

Laut Lusseyraan ist es einerseits die „Lawine“ der Zahlen, des Messbaren, des statistisch Durchschnittlichen, der „Kollektivtatsachen“ und des Materiellen, die unser Ich ersticken. „Wenn wir nicht unter äußerster Aufbietung aller Kräfte wie ein Lebensretter an die Arbeit gehen, dann wird bald die Wahrheit nur noch das sein, was die größere Zahl denkt, und das Gute nur noch das, was die größere Zahl tut“ (S. 14).

Die zweite große Gefahr sieht er in Rauschmitteln, die das Ich einschläfern und es verdrängen und auflösen. Wenn wir uns heute umschauen, so ist wohl das vorrangige „Rauschmittel“ die überbordende Nutzung von Medien jeglicher Art, die uns davon abhält, uns mit uns selbst auseinanderzusetzen, die uns einschläfert und mit digitalem Müll zuschüttet.

Dieses Büchlein ist für alle, aber besonders für jene, die ihr Ich bewahren und schützen wollen, ein wertvoller Gedankenanstoß und Warnhinweis. Gerade jetzt, wo die Kokophonie von Nachrichten, Meldungen, aktualisierten daten und Maßnahmen uns zu ersticken droht, brauchen wir mehr denn je unseren inneren Raum, den wir schützen müssen. Dort können wir zur ruhe kommen und auf unser Ich hören. Hören wir genau darauf, was es uns sagt. Denn: „Unser Ich ist leicht vergänglich, weil es jedesmal abnimmt, wenn es nicht tätig ist“ (S. 25).

Lusseyran, Jacques (1987): Gegen die Verschmutzung des Ich. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben. ISBN: 3-7725-0617-8

Renate Sprügl

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