4 SchülerInnen stehen in einer Reihe. Ihre Zungen sind herausgestreckt, darauf halten sie je ein 1 x 5 cm großes Zink und ein ebenso großes Kupferplättchen. Sie achten darauf, dass sich die beiden Metallplättchen nicht berühren. Die Metallplättchen auf ihren Zungen sind mit Krokodilklemmen miteinander verbunden und zwar nur die zwischen den SchülerInnen. Die Plättchen auf den Zungen sind nur dadurch in Verbindung, dass sie auf derselben Zunge liegen. Alle Plättchen sind so angeordnet, dass sich Zink und Kupfer abwechseln. Hinter den SchülerInnen steht eine 5. Person, die die Enden der beiden äußersten Krokodilklemmen hält. Für die 4 „Testpersonen“ unsichtbar, schließt diese Person in einem selbst gewählten Augenblick die beiden Enden der Krokodilklemmen zusammen. Im selben Moment stampfen alle 4 gleichzeitig heftig mit dem Fuß auf, manche quietschen oder verziehen das Gesicht. Sie hatten vorher den Auftrag bekommen durch ein Stampfen mit dem Fuß kund zu tun, wenn sie eine Veränderung spüren.
Können Sie sich die Situation vorstellen? Wenn ja, dann habe ich meine Aufgabe gut gemeistert. Die geschilderte Szene ist Teil einer Physik-Unterrichtseinheit zum Thema „Galvanische Elektrizität“. Die SchülerInnen – sowohl die aktiv teilnehmenden als auch die beobachtenden – haben nach der Durchführung dieses Versuches die Aufgabe, eine Versuchsbeschreibung in der Art, wie Sie sie eben gelesen haben, zu verfassen. Ergänzt wird die Beschreibung durch eine Zeichnung, die die Situation noch einmal klarer werden lässt. Beim vorliegenden Thema ist der geschilderte Versuch einer der ersten zum Thema. Durch weitere, aufeinander aufbauende Versuche, die nach einer detaillierten, wertfreien Beobachtung und Beschreibung, über ausführliche Gespräche darüber, letztendlich in die Formulierung von physikalischen Erkenntnissen münden, werden die SchülerInnen gedanklich hingeführt zu einem Verständnis der galvanischen Elektrizität. So bauen sie am Ende dieser Themeneinheit – je nach Dauer der einzelnen Einheiten sind das 2 – 4 Tage – eine sogenannte „Voltasäule“, die einer selbst gebauten Batterie entspricht und sogar eine kleine Glühbirne zum Leuchten bringt. Nach diesen Tagen der intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema haben sie im wahrsten Sinne des Wortes „begriffen“ und auch verstanden, wie eine Batterie funktioniert.
Das geschilderte Beispiel ist eines von vielen, die zum Thema „Phänomenologischer Unterricht“ genannt werden können. Nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern in jedem anderen Wissensgebiet ist diese Unterrichtsform denkbar, geht es doch letztendlich um nichts anderes, als die Welt und ihre „Phänomene“ mit den eigenen Sinnen wahrzunehmen, diese Wahrnehmungen wertfrei und detailliert zu beschreiben und dann mit den eigenen Denkfähigkeiten zu durchdringen um letztendlich gewisse Schlüsse daraus zu ziehen.
Das Wort „Phänomen“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Erscheinung, Sichtbares“. Beim phänomenologischen Unterrichtsansatz werden die Lernenden aufgefordert, alle ihre Wahrnehmungen zu einer Erscheinung, einem Thema (Versuche, Pflanzen, Tiere, Grammatik, etc.) genauestens zu schildern. Von diesen Wahrnehmungen werden über reflektierende Gespräche Erkenntnisse abgeleitet. In einem nächsten Schritt werden diese Erkenntnisse mit Erfahrungen und bereits vorhandenem Wissen in Verbindung gebracht. Daraus resultieren meist neue Ideen für Versuche oder tiefer gehende Beobachtungen und der oben beschriebene Zyklus beginnt von neuem. Es entstehen Forschungsdrang, wissenschaftliche Neugierde und der Wunsch mehr zu wissen, tiefer in eine Materie einzutauchen. Die besten Voraussetzungen für lebenslanges, freudvolles Lernen.
Ein besonders wichtiger Aspekt dabei ist die Tatsache, dass SchülerInnen, die sich Wissen mittels dieser Methode aneignen, die Erfahrung machen, dass sie mit ihren eigenen Sinnen, ihrer eigenen Beobachtungsgabe und ihrem eigenen Denken in der Lage sind, Weltzusammenhänge zu verstehen. Je öfter sie diese Erfahrung, vorerst unterstützt von ihren LehrerInnen und in überschaubaren Sinneinheiten machen, desto mehr Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten entwickeln sie, desto zuversichtlicher stellen sie sich den Herausforderungen dieser Welt.
Gerade in der Jugendzeit, wenn das kindliche Vertrauen in die Erwachsenen schwindet, und ihnen das Geschehen in dieser Welt oft undurchschaubar und unverständlich erscheint, brauchen sie diese Mut machenden Erlebnisse.
Ein weiteres Beispiel aus der Physik zum Thema „Hebelgesetz“ soll veranschaulichen, wie anders der phänomenologische Unterricht auf das Gefühl des „Verstehen-Könnens“ wirkt, als eine herkömmliche Definition, hier beispielsweise von einer Website, die „das Hebelgesetz einfach erklärt“:
Das Hebelgesetz gilt sowohl für zweiseitige als auch für einseitige Hebel. Es besagt, dass sich ein Hebel im Gleichgewicht befindet, wenn die Summe aller in eine Richtung gerichteten Drehmomente, die auf den Hebel wirken, gleich der Summe aller in die entgegengesetzte Richtung gerichteten Drehmomente ist. […] Wenn Sie von zwei angreifenden Kräften ausgehen, können Sie das Hebelgesetz als Formel schreiben: F1 x l1 = F2 x l2, wobei F jeweils für die Kraft steht und l für die Länge des Kraftarms. Die entstehenden Drehmomente wirken in diesem Fall in entgegengesetzte Richtungen. An dieser Formel erkennen Sie, dass es nicht nur die aufgewendete Kraft von Bedeutung ist, wenn Sie mit einem Hebel beispielsweise eine Last heben wollen, sondern auch die Länge des Kraftarmes und des Lastarmes. (http://www.helpster.de/das-hebelgesetz-einfach-erklaert_86075 [31.08.2017])
Um wie viel nachhaltiger ist dagegen ein ausgiebiges Schleppen von schweren Steinen, Ausprobieren verschiedener Balken, Seile, sowie mechanischer Hilfsmittel wie Scheibtruhe, „Kran“ und Flaschenzug. Das Ganze ständig begleitet von genauem Beschreiben, Besprechen, Überdenken und Reflektieren des Erlebten und Beobachteten. Wenn die SchülerInnen am Ende des Prozesses das Hebelgesetz (Kraft x Kraftarm = Last x Lastarm) formulieren, wissen sie, was diese Worte bedeuten, denn sie haben „sich selbst dorthin gedacht“. Eine noch so präzise und wissenschaftlich korrekte Definition (siehe oben) desselben physikalischen Phänomens hingegen, hinterlässt oftmals eher den Eindruck, etwas nicht verstehen zu können, „zu dumm“ zu sein. Dass dieses Gefühl wohl kaum dazu taugt, den Selbstwert zu steigern, Bedarf sicherlich keiner weiteren Erklärung.
Wir verfolgen mit unserer Pädagogik das Ziel, dass junge Menschen Zuversicht in ihre Fähigkeiten entwickeln, damit sie sich voll Selbstvertrauen in diese Welt hineinwagen können. Wir sind überzeugt, dass der phänomenologische Unterricht ein guter Weg dahin ist.
Hallo ihr Lieben!
Ich finde das sehr schön wie ihr das macht !
Was für ein Glück so zu lernen !
Berit