Essay

Unplugged Time – pädagogische Gedanken

Einfach mal den Stecker ziehen – so lautet das Motto unserer beliebten Sommerwoche, die im heurigen Jahr zu einem „Unplugged“ Format erweitert wird. Unsere pädagogischen Beweggründe und Überlegungen dazu haben wir im folgenden Text aufgeschrieben.

Altbewährt ist die „Unplugged Week“ (6Tage im Sommer, incl. Übernachtung), dazu kommen nun die „Unplugged Days“ (Projektwoche im Sommer ohne Übernachtung) und „Unplugged Satur_Days“ (von März – Dezember ein Samstagnachmittag pro Monat).  Wie der Name schon sagt, geht es bei allen Formaten darum, ohne „Strom“ – also ohne vermittelnde Medien – lebendige, authentische Erfahrungen möglich zu machen. Während allerorts und jederzeit digitalem Lernen und digitalen Kompetenzen gehuldigt wird, möchten wir den realen Raum weiten zum Leben und Lernen mittels analoger, lebendiger  Erlebnisse.

Wir sind der Ansicht, dass es von entscheidender Bedeutung ist, heranwachsenden jungen Menschen die Gelegeheit zu geben, mit der Welt in lebendige Bezeihung zu treten und sich zudem als sinnvoll handelnd zu erleben, denn:

Ein modernes Leben bietet heute den meisten Kindern die Möglichkeit, in materieller Sicherheit und Bequemlichkeit aufzuwachsen. Reale, existentielle Bedrohungen und harte körperliche Arbeit gibt es im Allgemeinen nicht mehr. Dennoch bleibt der Eindruck, dass den heutigen Kindern etwas fehlt. Vielerorts wird das „Verschwinden der Kindheit“ beklagt, ein Mangel an räumlichen und zeitlichen Freiräumen ist charakteristisch für heutige Kindheiten. Was fehlt ist der Kontakt mit dem „echten Leben“ und lebendige Erfahrungen.

Das technisierte, digitalisierte Leben, das viele Kinder führen, entfernt zunehmend von der Natur und vom realen Erleben. Erlebnisse sind heute vielfach einer Freizeit- und Erlebnisindustrie vorbehalten. Sie werden verkauft wie andere Waren. Eine bunte Palette an „Events“, die allesamt versprechen, unheimlich aufregend, berauschend und einzigartig zu sein, bleiben ohne Zusammenhang mit dem wirklichen, alltäglichen Leben. Gefühle werden produziert, gesteuert und verkauft. Digitalisierte und „maschinell“ vorgefertigte Abenteuer werden von Softwareentwicklern und Computeralgorithmen „vorgedacht“ und von einer Gefühlsindustrie vermarktet. In diesem virtuellen Raum des „Gedacht Werdens“ sind der Manipulation Tür und Tor geöffnet. Erlebnisse dieser Art bleiben dem wirklichen Leben fremd.

Da virtuelle Welten gerade in neuerer Zeit zunehmend reale Erlebnisse ersetzen, sind Kinder und Jugendliche besonders stark von einer Entwicklung der „Weltentfremdung“ (Rosa, 2017) betroffen. Es geht um einen generellen Verlust von wirklichen, realen Er-LEB-nissen und um eine Verankerung in der Lebensrealität, im alltäglichen Leben selbst. Lebendige, nicht vorgefertigte oder vorgedachte Erfahrungen werden in der modernen Welt zunehmend rarer. Vielmehr werden Menschen zu Zuschauenden degradiert, die nicht in das Beobachtete eingreifen können. 

Neben dem grundlegenden „Mit der Welt in Beziehung treten  geht es dabei auch darum, dass jeder Mensch das Gefühl braucht, sich in dieser Welt zurechtfinden zu können. Aaron Antonovsky beschreibt in seinem salutogenetischen Modell das sogenannte Kohärenzgefühl. Je ausgeprägter dieses ist, desto leichter fällt es einem Menschen, Krisen und schwierige Lebenssitutationen unbeschadet zu überstehen. Seinem Ausspruch: „Es ist vermutlich besser, sich auf das zu konzentrieren, was den Menschen gesund erhält, als immense Mittel für die Erforschung seiner Krankheiten auszugeben“, kommt heute wohl eine besondere Bedeutung zu. Dieses Kohärenzgefühl besteht aus drei Faktoren: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit.  Verkürzt ausgedrückt ist es die mehr oder minder ausgeprägte Überzeugung, das eigene Leben gestalten zu können.

Deshalb ist es unser Ziel, den Kindern, die zu einer „Unplugged-Time“ zu uns kommen, die Gelegenheit zum Aufbauen einer realen Weltverbindung und gleichzeitig eine vielfältige Palette an Möglichkeiten, wie sie sich handelnd und gestaltend in der wirklichen Welt erleben können. So können sie ihre Fähigkeiten erproben und ausbauen und damit ihr Gefühl der Selbstwirksamkeit stärken.   

Durch die Erfahrung, wie die Welt auf die Kinder und ihr Handeln reagiert, werden Zusammenhänge erkennbar und SINN-voll. Ist das theoretische und digitalisierte Wissen um eine Sache bereits ein Wissen, das auch in andere Zusammenhänge übertragen werden und damit lebendig wird und sich weiterentwickeln kann? Unsere Erfahrung mit Menschen jeden Alters hat gezeigt, dass erst das Hingreifen und Tun wirkliches Verständnis zur Folge hat. Durch das tätige Erlebnis mit allen Sinnen, offenbaren sich Sinnzusammenhänge, die ein tiefergehendes, echtes Begreifen und Verstehen ermöglichen. Das Handeln wird so in einer zweifachen Bedeutung SINN-voll.

Wenn wir die Kinder erleben, wie sie mit voller Begeisterung Kartoffeln ausgraben, Heu rechen, Kräutersirup zubereiten, Apfelsaft pressen, mit den Eseln an der Leine durch den Wald spazieren, die Hunde füttern, ein Insektenhotel bauen, eine Obstmühle restaurieren, ein Holzschwert oder eine Schüssel schnitzen, Holz für das Lagerfeuer sammeln, am Lagerfeuer Steckerlbrot backen, einander beim Bauen eines Lagers im Wald helfen und und und…, dann wissen wir, dass wir das richtige tun, indem wir ihnen die Gelegenheit zu all dem bieten.  Der wohlige Seufzer begleitet von der Aussage: „Ich hab‘ in meinem Leben noch nie so richtig gearbeitet“ bestätigt uns, dass Kinder sich als sinnvoll und bedeutungsvoll handelnd erleben möchten.   

In diesem Sinne freuen wir uns auf viel „Unplugged Time“ mit den Kindern!

Unplugged Week

Unplugged Days

Unplugged Satur_Days

Literatur:

Louv, R. (2010). Last child in the woods. Saving our children from Nature-Deficit Disorder. London: Atlantic Books.

Postman, N. (2009). Das Verschwinden der Kindheit. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.

Rosa, H. (2017). Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp.

Sprügl, R. (2021). Der Entwicklung Raum geben. In: L. Weiss / C. Willmann: Sein und Werden. Beiträge zum Entwicklungsverständnis der Waldorfpädagogik. Münster: LIT Verlag

 

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Renate Sprügl

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Renate Sprügl

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